Sensorgraphie
Zunächst einmal möchte ich auf den Ursprung des Wortes Fotografie eingehen. Photographie: aus griech. phos, Gen. photos, „Licht“, und griech. graphein „schreiben, zeichnen“[1]. Es wird also mit Licht geschrieben oder gezeichnet. Dieses ist sehr wichtig, weil das Licht auf lichtempfindliches Material (den Film) trifft und durch chemische Prozesse diese stattgefundene Veränderung sichtbar und haltbar gemacht wird.
Ich persönlich bin ein großer Anhänger der analogen Fotografie (mit dem anschließenden Scannen der Negative). Nicht nur als Kulturtechnik muss diese bewahrt werden, sondern auch, weil die künstlerischen Prozesse von der Idee zum Bild für mich eine andere Wertigkeit haben, als die digitale Fotografie. Und da bin ich schon voll in meinem sprachlichen Dilemma. Wenn heute von „Fotografie“ gesprochen wird, wird automatisch von digitaler Fotografie ausgegangen. Doch ist für mich Fotografie, dieses Malen oder Zeichnen mit Licht etwas anderes, als die Omnipräsenz von Kameras in Smartphones oder aber auch anderen Digitalkameras. Diese Wertigkeit drückt sich so aus, dass ich meine digital erstellten Bilder weniger wertschätze, als die analogen Geschwister. Ob es daran liegt, dass sie so schnell und einfach da sind, weiß ich nicht. Schnell und einfach meint, dass ich nicht warten muss, bis der Film entwickelt und die Bilder von mir gescannt sind, was sehr lange dauern kann. Die Bilder sind gleich da, ich kann sie am Smartphone bearbeiten und auch sofort teilen. Es sind Impulse, schnelle Ideen, Schnappschüsse – auch wenn es sich zum Beispiel um Dubbles (Doppelbelichtungen) oder ähnliches handelt. Ich kann nicht länger von analoger und digitaler Fotografie sprechen, sondern plädiere dafür, die digitale Fotografie nach ihrer Aufnahmetechnik zu benennen: Sensorgrafie. Sensor: aus lat. sensus „das Wahrnehmen, Beobachtung“, zu lat. sentire „fühlen, wahrnehmen“[2]. Nicht nur gibt „Sensorgrafie“ die rein technische Seite wieder, sondern das im lateinischen Wort sensus steckende Wahrnehmen und Beobachten bezeichnet gleichzeitig die Rolle des Sensorgrafen beziehungsweise der Sensorgrafin als wahrnehmende Beobachter. Und ist es nicht das, was die sensorgrafierende Masse macht? Wahrnehmen, beobachten und sofort ein Bild haben, ein Sensorgramm.
Diese Unterscheidung macht es mir leichter, meine digital entstandenen Fotografien, meine Sensorgramme, anders und wertvoller wahrzunehmen, denn es geht um keinen direkten Vergleich mehr zwischen analog und digital. Es sind zwei unterschiedliche Aufnahmeverfahren, die von daher eine individuelle Bezeichnung verdienen.
Zwei unterschiedliche Bewertungsverfahren benutze Newhall „[b]ezugnehmend auf […] Fotografiegeschichten […], die […] in erster Linie nach ihren ästhetischen Auswirkungen beurteilt werden sollten.“[3] Dabei ginge es vor allem um eine Untersuchung nach „optischen und chemischen Gesetzen“[4] Genauer: „auf der optischen Seite das Detail und auf der chemischen Seite die Treue der Tonwertwiedergabe.“[5] Dabei ginge es darum, „eine Grundlage zu schaffen, mit der die Bedeutung der Fotografie als ästhetisches Medium besser erfasst werden k[önne].“[6]
Für mich stützt das die These, der neue Aufnahmetechnik, die im Volksmund „Digitalfotografie“ (eigentlich nur „Fotografie“! Denn die heute bilderstellende Generation kennt nur noch digitale Aufnahmeverfahren!) heißt, einen eigenen Namen zu geben. Müsste ich immerzu Digitalfotografie sagen, um eine Abgrenzung zur analogen Fotografie zu schaffen, müsste ich auch weitere technische Informationen benennen, wie Art der Kamera (DSLR, Handy, Computer, Scanner…), des Objektivs und des Sensors mit Prozessorleistungen.
Dem/der BetrachterIn mag es egal sein, wie ein Foto aufgenommen wurde, doch macht es einen großen Unterschied, ob das Bild analog oder digital entstanden ist.
Der Raum ist ein weiterer entschiedener Faktor bei der Fotografie. Box, Kasten, Schachtel, Dose… Von der Öffnung (dem Loch bei Pinhole oder der Linse) zum lichtempfindlichen Material muss Platz sein, Leere, so dass der gewünschte Abschnitt des Films (oder anderen Materials) belichtet wird. Das zeichnende Licht braucht den Raum, um seine Wirkung zu entfalten.
Der Sensor hingegen braucht die Fläche, um möglichst viele Informationen aufnehmen zu können. Er ist also zweidimensional, flach. Wobei auch hier ein Abstand eingehalten wird, der aber viel geringer ist – vor allem bei Smartphones.
Sicherlich gibt es auch die Möglichkeit, Gegenstände direkt auf Fotopapier zu legen (Sonogramme), doch ist das die Ausnahme.
Herta Wolf beschreibt die Fotografie als eine der „neue[n] Speichertechnologien“[7] im 19. Jahrhundert. Sicherlich hat auch die räumliche Verkleinerung der Speichermedien mit trotzdem immer mehr Speicherplatz zur Verbreitung der Sensorgraphie beigetragen. Ähnliches hat die analoge Fotografie in ihrer Geschichte auch erlebt. Eine weitere Parallele und somit die Stützung der Überlegung, dass die Sensorgraphie eine neue Form der Bilderfassung ist, ist die Beschreibung, wie immer mehr Fotografien „einer Vielzahl von Interessenten verfügbar“[8] gemacht wurden – etwas, das heute das Internet ermöglicht. Weiter heißt es, dass „Effekte dieser Bemühungen […] immense Bilddatenbanken [waren], deren Datenmenge numerisch so groß war, da[ss] man über sie nur virtuell verfügen mochte.“[9] Außerdem ermöglichte die „im 19. Jahrhundert einsetzende Bilderflut die Bewohner der westlichen Welt […] ein[…] umfassende[s] Wissen[…] über nie Gesehenes“[10] – ein Fakt, der heute auf globaler Skala zu beobachten ist. Heute würde ich diesen Effekt Bildersintflut oder Sensorgraphien-Sintflut nennen, dessen Wirkung noch nicht hervorsagbar ist. Was passiert mit all den Bildern und sorgen diese nicht für einen Untergang der bekannten Bildkultur?
Auch sie geht bezugnehmend auf Malraux auf das Detail („Detailsichten“[11]) ein und beschreibt die „Spezifika de[s …] technischen Bildmedium[s] Fotografie“[12]: „Fragmentierungen, Detailsichten, Vergleichbarkeit, Entkontextualisierung und die numerische Ordnung“.[13]
Die Sensorgraphie ermöglicht sofortige Vergrößerung (Zoom) und somit Sicht auf Details, die ansonsten übersehen oder erst später entdeckt worden wären. Diese Dinge, die aus einer Aufnahme herausstechen, nennt Barthes „Punctum“.[14]
Meines Erachtens ist die digitale Fotografie, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht einfach eine Ergänzung oder Erneuerung der analogen Fotografie, sondern eine ganz eigene Art, Bilder anzufertigen und verdient daher eine eigene Bezeichnung.
[1] Quelle: http://www.wissen.de/wortherkunft/fotografie Stand 2016-01-06
[2] Quelle: http://www.wissen.de/wortherkunft/sensor Stand 2016-01-06
[3] Christopher Phillips, „Der Richtestuhl der Fotografie“, aus: „Paradigma Fotografie“, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, erste Auflage 2002 S. 300
[4] EBD, S. 300
[5] EBD, S. 300
[6] EBD, S. 301
[7] Herta Wolf, „Das Denkmalarchiv Fotografie“, aus: „Paradigma Fotografie“, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, erste Auflage 2002 S. 349
[8] EBD, S. 350
[9] EBD, S. 350
[10] EBD, S. 350
[11] EBD, S. 350
[12] EBD, S. 350
[13] EBD, S. 350
[14] Vgl. „Die helle Kammer“
Jörg Knörchen
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Hallo Stephan,
ein sehr schöner Artikel! So schön habe ich es bislang noch nicht formulieren können.
Sensorgrafie bedeutet für mich – digitale Fotografie. Wobei der Vorgang, das fotografieren, mit „allen Sinnen“ oder Sensoren erfolgen soll und wichtig ist, Nur wenn ich als Fotograf (oder Sensorgraf) die Szene oder mein Objekt mit meinen eigenen Sensoren richtig erfasse, das Motiv richtig wahrnehme, es beobachte und ein Gefühl oder Gespür dafür bekomme oder habe, und nur dann, kann ich es mit meiner Kamera so einfangen und aufzeichnen dass ein wirklich gutes und aussagekräftiges Foto (ein Sensorgramm) entsteht.
Herzliche Grüße
Jörg